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Trotz aller Rückschläge, welche die Geschichte
verzeichnet, trotz des Auf- und Abstiegs von Kul-
turen, trotz des Verschwindens von Rassen und
Kontinenten gibt es ein unbezwingliches und fest-
gegründetes Bauwerk, das des Menschen wahre
Wohnstätte ist. Wenn wir das begreifen, können
4 Calibanparle von JeanGuéhenno, Editions Grasset, Paris
wir eintreten. Wir werden die Welt nicht erst nie-
derreißen müssen.
Wie Flüsse vom Ozean verschluckt werden, so
müssen alle geringeren Wege schließlich in den
größeren Weg einmünden, man mag diesen nen-
nen, wie man will. Moral, Ethik, Gesetze, Sitten,
Glauben und Lehren bedeuten nur wenig. Es
kommt einzig und allein darauf an, daß das Wun-
derbare die Norm wird. Selbst jetzt in unserem
ausweglosen und elenden Zustand mangelt es am
Wunderbaren nie ganz. Aber wie grotesk, wie un-
beholfen und plump sind unsere Bemühungen, es
herbeizuführen. Die ganze Geschicklichkeit, all
die herzbrechende Arbeit an Erfindungen, die als
wunderwirkende Zaubermittel betrachtet werden,
muß nicht nur als eine Verschwendung angesehen
werden, sondern als unbewußtes Bemühen des
Menschen, dem Wunderbaren zuvorzukommen
und es zu umgehen. Wir stopfen die Erde mit un-
seren Erfindungen voll, ohne uns träumen zu lassen,
daß sie möglicherweise unnötig oder  nachteilig
sind. Wir ersinnen erstaunliche Verkehrsmittel,
aber stehen wir miteinander in Verbindung? Mit
unglaublicher Geschwindigkeit fliegen wir hin und
her, aber haben wir wirklich den Ort, von dem wir
abgeflogen sind, verlassen? Geistig, moralisch und
seelisch sind wir in Fesseln geschlagen. Wir ebnen
Bergketten ein, bändigen die Energie mächtiger
Flüsse oder schieben ganze Bevölkerungen wie
Schachfiguren umher, aber was ist uns damit ge-
dient, solange wir selbst genauso ruhelos, elend
und gehemmt bleiben wie zuvor? Eine solche Tä-
tigkeit Fortschritt zu nennen, ist krasse Selbsttäu-
schung. Es mag uns gelingen, das Antlitz der Erde
so zu verändern, daß es selbst dem Schöpfer nicht
mehr erkennbar ist, aber wenn wir selbst unver-
ändert bleiben, wo liegt da der Sinn?
Sinnvolle Tätigkeit erfordert keine unablässige
Bewegung. Wenn alles versinkt und einstürzt, ist
es am zweckmäßigsten, still zu sitzen. Der Mensch,
dem es gelingt, die Wahrheit zu erkennen und aus-
zudrücken, hat wahrhaftig mehr vollbracht, als
wenn er ein großes Reich zerstört hätte. Es ist über-
dies nicht immer nötig, die Wahrheit laut zu ver-
künden. Mag die Welt zerfallen und sich auflösen,
die Wahrheit bleibt.
Im Anfang war das Wort. Der Mensch erfüllt
es. Er ist der Akt, nicht der Akteur.
Man kann  ja, man muß  fröhlich in einer
Welt leben, die mit sorgenvollen, leidenden Ge-
schöpfen angefüllt ist. Welche andere Welt gibt es
denn, auf der man das Leben genießen könnte?
Das eine weiß ich, daß ich nichts mehr vollbringe,
nur um etwas zu vollbringen, noch irgend etwas
unternehme, nur um aktiv zu sein. Noch kann ich
als notwendig oder unvermeidlich anerkennen,
was jetzt im Namen von Gesetz und Ordnung,
Friede und Wohlstand, Freiheit und Sicherheit vor
sich geht. Das könnt ihr an die Hottentotten ver-
kaufen! Ich kann es nicht schlucken, es ist mir zu
gräßlich. Ich will mein eigenes Stück Land ein-
zäunen, nur ein winziges Stück, das aber mir ge-
hört. Da ich noch keinen Namen dafür habe, nenne
ich es vorläufig das Land des Ficks.
Ich habe von diesem seltsamen Terrain schon
einmal gesprochen. Ich nannte es ein «Zwischen-
spiel». Ich erwähne es noch einmal, weil es jetzt
mehr als je nach Wirklichkeit klingt. Auf diesem
Gebiet bin ich unbestritten Monarch. Ich mag
vielleicht total verrückt sein, aber nur, weil
999999999999 andere anders denken als ich. Wo
andere Selleriewurzeln, Kohlrabi, Pastinaken und
rote Rüben sehen, entdeckte ich ein neues Gewächs
 den Keim einer neuen Ordnung.
Wie das Geschlechtsleben des Menschen unter
einer neuen Ordnung sein wird, das zu beschreiben
übersteigt meine schwache Vorstellungskraft. Wir
wissen etwas über die Glut und Ekstase, welche
die Riten und Zeremonien von Heiden und primi-
tiven Völkern kennzeichnen. Wir wissen auch et-
was von der Kunst und der Zartheit, mit der
fromme Orientalen den Liebesakt vollziehen. Aber
wir haben noch nie etwas von einem Volk gesehen
oder gehört, das frei von Aberglauben, rituellen
Vorschriften, Götzendienst, Furcht oder Schuld
ist. Einige sind in dieser Hinsicht frei gewesen,
andere in anderer. Nicht einmal zu König Arthurs
Zeit  und es war eine glorreiche Zeit  zeigte sich
der Mensch frei.
Unsere Träume liefern uns jedoch einen Schlüs-
sel zu den Möglichkeiten, die vor uns liegen. Im
Traum kommt der adamitische Mensch zum Le-
ben, der eins ist mit der Erde, eins mit den Sternen,
der mit gleicher Freiheit durch Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft streift. Für ihn gibt es keine
Tabus, keine Gesetze, keine Konventionen. Auf
seinem Wege wird er nicht durch Zeit, Raum, phy-
sische Hindernisse oder moralische Erwägungen
behindert. Er schläft mit seiner Mutter so natürlich
wie mit irgendeiner anderen. Wenn er mit einem
Tier des Feldes seine Lust befriedigt, fühlt er kein
Widerstreben. Er kann seine eigene Tochter mit
gleicher Wonne und Befriedigung nehmen.
Im wachen Zustand, verkrüppelt, gefesselt, ge-
lähmt durch alle möglichen Befürchtungen, bei je-
dem Schritt bedroht durch wirkliche oder einge-
bildete Strafen, kommt beinahe jedes Verlangen,
dem wir Ausdruck zu geben suchen, in falscher
oder übler Weise zum Vorschein. Das wahre Selbst
weiß es anders. Sobald man die Augen schließt,
werden alle diese verbotenen Triebe hemmungs-
los befriedigt. Im Traum lassen wir uns trotz aller
Stacheldrahtverhaue, Abgründe, Fallen und Un-
geheuer, die an unserem Wege lauern, von nichts
abhalten. Wenn unsere Triebe behindert oder un-
terdrückt werden, wird das Leben gemein, häß-
lich, lasterhaft und todesähnlich. Mit anderen
Worten, es wird genau so, wie es ist. Schließlich ist
ja die Welt, die wir bewohnen, das Spiegelbild
unseres inneren Chaos. Unsere Mediziner, unsere
juristischen Fanatiker, alle die mit härenen Ge-
wändern bekleideten Pädagogen und Dunkelmän-
ner, die die Szenerie beherrschen, möchten uns
glauben machen, daß der Wilde und Primitive, wie
sie den natürlichen Menschen nennen, erst gekne-
belt und gefesselt werden muß, wenn er am Leben
der Gesellschaft teilnehmen will. Jeder schöpferi-
sche Mensch weiß, daß dies falsch ist. Nie ist etwas
durch Verkrampfung, Behinderung und Fesselung
zustande gekommen. Weder Verbrechen noch
Krieg, noch böse Lust, noch Gier, noch Neid wer-
den so ausgetilgt. Alles, was im Namen der Ge-
sellschaft erreicht wird, ist die Fortsetzung der gro-
ßen Lüge.
Anzunehmen, daß die Menschen, wenn sie nicht
durch Furcht vor Strafe zurückgehalten werden,
sich morden und ausplündern, Sodomie treiben
und ad infinitum einander foltern werden, ist eine
Verleumdung des Menschengeschlechts. Wenn man
ihnen nur eine halbe Chance gibt, werden die [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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